Kulturgeschichte
Immer schneller, immer weiter, immer mehr. Was heute Touristen antreibt, war schon Reisenden des 19. Jahrhunderts nicht ganz unbekannt – auch nicht dem reisefreudigen Engländer, um den – respektive um dessen Tagebuch – es in der Erzählung „Ein Tag auf dem Stadthurm zu Andernach“ geht. Friedrich Wilhelm Carové, 1789 in Koblenz geborener Jurist, Schriftsteller und Philosoph und von Februar bis August 1816 Einnehmer der Rheinschiffahrtsgebühren in Andernach, veröffentlichte sie in seinen 1830 in Frankfurt erschienenen Band „Moosblüthen, zum Christgeschenk“.
Der reisende Engländer
Im ersten der zwölf Tagebuchblätter, auf die sich Carové in seiner Erzählung beruft, beklagt der Engländer, dass die Menschen am liebsten möglichst viel und das immer schneller genießen wollten, auch und gerade beim Reisen. „Schon ist die Reise klein, wenn sie nur durch Frankreich, Italien, die Schweiz und die Rheingegenden geht…Bald…wird es nicht mehr genug seyn, den Köllner Dom und den heil. Christoph zu München, und das jüngste Gericht in Rom gesehen zu haben, vom Pariser Koth, vom Berliner Sand und vom Wiener Staub sprechen zu können…in einen amerikanischen Urwald und bis zu einer Oase im sandigen Arabien muß man durchgedrungen seyn, drei Minuten bleiben für den Fall des Niagara und höchstens drei Wochen für die Ruinen von Meroe, Persepolis und Ellora…“.
Da ist es fast ein Glück, dass der reisende Engländer offenbar ein wenig zu blauäugig sein Kapital in die Geschicklichkeit der Mechaniker seines Landes, in die Technik der Dampfmaschine und der modernen Verkehrsmittel investiert und dabei viel verloren hat, so dass ihm nur noch wenig Geld zum Reisen bleibt. Deshalb wählt er sich den Rhein als Ziel, dessen von stolzen Burgen und heroischen Ruinen gekrönte, von malerischen Dörfern und Städten gesäumte Ufer für viele seiner Landsleute die Inkarnation der romantischen Landschaft schlechthin sind. Vielleicht hat er für seine Reise schon ein Dampfschiff benutzt; möglich wäre es immerhin, denn bereits am 12. Juni 1816 erreichte der englische Schaufelraddampfer „Defiance“ Köln und elf Jahre später fuhr James Watt jr. mit dem Dampfschiff Caledonia bereits bis nach Koblenz.
Der erste Blick auf Andernach
Jedenfalls hat Carovés Reisender „altköllnische Kunst“ und „neubonnische Wissenschaft“ schon pflichtschuldig abgehakt. Nun geht es flussaufwärts weiter, vorbei am Siebengebirge mit dem „kühnen Drachenfels“. Ihm, dem „castled crag“ hatte ein anderer Engländer, George Gordon Byron, der ebenso melancholische wie skandalträchtige Lord, der 1816 das Rheintal auf dem Weg in die Schweiz bereiste, in seinem Epos „Childe Harold’s Pilgrimage“ ein literarisches Denkmal gesetzt, vorbei am „lockenden Rolandswerth“, an grünen Rebhängen, durch eine Landschaft, deren Schönheit seine Landsfrau Ann Radcliffe bereits 1794 bei gerühmt hat, sieht der Engländer „im letzten Abendglanz zu meiner Linken den kühngewölbten Hammerstein, und rechts den gradabschüssigen Krahnenberg, zwischen Beiden die prächtigen Thürme von Andernach“, wo er einen Ruhetag einlegt.
Die eindrucksvollen Türme der Stadtbefestigung und der Pfarrkirche lassen ihn eine große und heitere Stadt erwarten, „…aber ich fand nur ein kleines, dumpfes Nest. Doch war die enge Straße voller Menschen; denn am anderen Tage sollte der weitberühmte Birnkrautsmarkt gehalten werden (i. e. der heutige Michelsmarkt).“ Das Urteil des Enlgänders bestätigt ein zeitgenössischer, 1820 in Frankfurt veröffentlichter Reiseführer des Geografen und Statistikers Johann Andreas Demian (1770-1845), das „Handbuch für Reisende auf dem Rhein und in den umliegenden Gegenden“. Da heißt es geradezu vernichtend: „Andernach ist sehr schlecht gebaut, hat winklichte, dunkle Strassen, und nicht ein einziges schönes Gebäude.“ Der Ort hat, laut Demian, 2379 Einwohner, die Acker-, Wein- und Obstbau betreiben, „Viehzucht, Handwerke, Schiffahrt und Handel“. Wichtigste Ware des Rheinhandels sind Mühl- und Tuffsteine aus der nahen Eifel, die ihrer Qualität wegen selbst in Russland und Amerika geschätzt werden.
Derlei nüchterne Informationen interessieren den reisenden Engländer eher weniger. Stattdessen besteigt er gleich bei Sonnenaufgang den im 15. Jahrhundert als Wart- und Wehrturm errichteten runden Turm, begleitet von dem zuvor bestellten Thürmer und klischeehaft ausstaffiert mit Fernrohr, „Zeichengeräthe“ und einer Flasche Grog. Und wenn ihn auch Andernach an sich nicht begeistert, wenn sich der Türmer für die engen Gassen entschuldigt – die Schönheiten der umgebenden Landschaft begeistern den auch noch glücklicherweise des Deutschen mächtigen „Herrn Milord“ desto mehr. Erst recht, als der Türmer ihm die Geschichten, Sagen und Legenden zu den umliegenden Orten zu erzählen beginnt, die er selber aufgeschnappt hat, als der „Herr Schuldirector“ einen der „Großen von Coblenz“ auf den Turm führt. Als dann noch ein „zartes Mägdlein“, blondbezopft und mit himmelblauem Mieder, um die Mittagszeit mit dem zuvor in der „Lilie“, dem auch von Karl Baedeker in seinem Rheinreiseführer empfohlenen Gasthaus, vorbestellten Imbiss auftaucht, als sich zwischen ihr und dem Engländer ein kleiner Flirt entspinnt, ist das Glück des Reisenden komplett.
Bildquelle: 90Grad Photography/Hilger & Schneider GbR