Essbare Stadt Andernach

© 90Grad Photography/Hilger & Schneider GbR

Kulturgeschichte

Wer nach Andernach vom Rhein her in die Stadt kommt, kann sie gar nicht übersehen. Am so genannten Innentor der ältesten Doppeltoranlage im Rheinland stehen auf später hinzugefügten Basaltkonsolen zwei überlebensgroße Tuffsteinfiguren aus dem 13. Jahrhundert. Ursprünglich waren sie bunt bemalt und signalisierten jedem Ankommenden Wachsamkeit, denn Ihrer Position am Tor gemäß waren es Soldaten oder Wächter.

Die aber mutierten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Zeit, als der Bonner Germanistikprofessor Karl Simrock in der 1869 erschienenen Auflage der „Rheinsagen – aus dem Munde des Volkes und deutscher Dichter“ auch die Sage von den Andernacher Bäckerjungensage Schwarz auf Weiß festhielt, eben zu den beiden wachsamen Nachwuchsbäckern.

Simrock war allerdings nicht der erste, der ihre Geschichte aufschrieb; schon vierzehn Jahre zuvor hatte dies Wilhelm Reuter, seines Zeichens Altphilologe und Gymnasiallehrer, getan.

Worum geht es?

Zwei fremde Bäckerjungen bewahren die offenbar eher verschlafenen Andernacher vor einem nächtlichen Überfall der streitbaren Linzer. Die wollen sich rächen für die Rückverlegung des einträglichen Rheinzolls. Der hatte im 14. und 15. Jahrhundert tatsächlich, je nach Gunst des Kölner Erzbischofs oder des deutschen Kaisers, mehrfach die Rheinseite gewechselt, war mal den Linzern, mal den Andernachern gewährt worden. Die beiden Bäckerjungen jedenfalls torpedierten die schon mit dem Rammbock zum Sturm bereiten Angreifer vor dem Rheintor mit Bienenkörben. Die in der Zwischenzeit alarmierte Stadtwache besorgt den Rest und verjagt die arg zerstochenen Linzer endgültig. So, wie es Simrock in gereimter Form festhält:

Den Linzern wär der Streich gelungen,
Sie äßen Andernacher Brot,
Wenn nicht zwei fremde Bäckerjungen
den Meistern halfen aus der Not.

Sie waren auf den Turm gelaufen
und standen, frischen Honigs satt;
Da sahen sie den Linzer Haufen,
der überrumpeln will die Stadt.

Doch als sie jetzt ans Stadtthor rücken,
was war der Bäckerknaben Gruß?
Die Bienenkörb in tausend Stücken
schleudern sie ihnen vor den Fuß.

Da stechen ungezählte Summer,
und hundert töten einen Mann;
Gewiß, da zog die beste Nummer,
wer noch mit heiler Haut entrann.

Die Jungen zerren an den Glocken,
aufstehn die Andernacher Herrn;
Sie finden in die Milch zu brocken,
doch keinen Feind mehr nah und fern.

„Wir hatten trefflich uns gebettet;
Ja, solche Wacht empfahl Vernunft;
Und hat kein Bäcker uns gerettet,
so thats die junge Bäckerzunft.“

Kommt ihr ins Thor, ihr seht inwendig
noch heut die Bäckerjungen stehn.
Und halten sie die Wacht beständig,
kein Linzer läßt sich leicht mehr sehn.

Auch wenn es Simrock hier als gegeben annimmt, dass es sich bei den beiden Tuffsteinfiguren am Rheintor – in früheren Zeiten, nach der dahinterliegenden Gasse, Korntor genannt – wirklich um die beiden tüchtigen Bäckerjungen handelt: Es gibt noch eine andere, ältere Variante der Sage von der Errettung der Stadt. Die hatte der 1789 in Koblenz als Sohn eines kurtrierischen Hofrats geborene Jurist, Schriftsteller und Philosoph Friedrich Wilhelm Carové 1816 zusammen mit anderen Sagen und Märchen vom Rhein den auch solche Stoffe emsig sammelnden Gebrüdern Grimm geschickt. Und da sind es keine Bäckerjungen, sondern zwei Bierbrauer, und es geht auch nicht um die neidischen Linzer, sondern die zweite Belagerung der Stadt durch schwedische Truppen während des 30jährigen Kriegs. Die werden von den wachsamen Brauern mit heißem Wasser vertrieben.

Alter Schwede…..

Tatsächlich hatten 1632 die Truppen des schwedischen Generals Wolf Heinrich von Baudissin die Stadt erstmals besetzt und ausgeplündert, weil sie Unterstützungsleistungen für die Schweden ablehnte. Als im März des folgenden Jahres Andernach von kaiserlichen und spanischen Truppen beschossen wurde, legten die Schweden die Stadt in Feuer und Asche – bei dem Brand wurden 197 Häuser zerstört – und zogen sich zurück. Im Dezember 1633 starteten sie noch einmal, nun vergeblich, einen Besetzungsversuch.

Wie Carové an die Geschichte kam, steht nicht fest. Aber schließlich arbeitete er nach seinem Jurastudium an der von den Franzosen in Koblenz eingerichteten Rechtsfakultät von Februar bis August 1816 in Andernach als Einnehmer der Rheinschiffahrtsgebühren, die noch bis 1831 von den Rheinuferstaaten erhoben wurden. In jedem Fall dürfte es im 17. Jahrhundert auch in dieser Stadt Bierbrauer gegeben haben, denn Bier war, angesichts des oft wenig sauberen Trinkwassers, ein reichlich konsumiertes Getränk. Gebraut häufig gar von Frauen, nicht nur von Nonnen im Kloster, sondern auch am heimischen Herd.

Die Sage der rettenden Andernacher Bierbrauer ist nicht das einzige literarische Werk Friedrich Wilhelm Carovés, das sich mit Andernach und dem Mittelrhein beschäftigt. Mehr dazu in unserer nächsten „Kultur-Geschichte“.

 

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